Spendenaufrufe erzählen in der Regel eine Geschichte über Betroffene. Die Leser*innen der Geschichte werden dabei zu Beobachter*innen einer Hilfeszenerie. Bringt man sie jedoch dazu, selbst die Perspektive der Betroffenen einzunehmen, hat das Einfluss auf die Spendenbereitschaft. Wann das von Vorteil ist und wann nicht, erfahren Sie hier.
Wer im Straßenverkehr unterwegs ist und schon einmal eine brenzlige Situation erlebt hat, kennt das nur zu gut: Alle anderen sind Idioten und schlicht unfähig geradeaus zu fahren, während man selbst nur unglücklich von der Sonne geblendet war, das Schild hinter dem Baum nicht rechtzeitig gesehen hat oder das Lied im Radio eben mal wegskippen musste.
Die Psychologie nennt dies „Akteur-Beobachter-Bias“. Der besagt, dass man als Beobachter*in einer Situation die Handlung von Personen auf deren Persönlichkeitsfaktoren zurückführt („Idioten“, generell fahrunfähig), während man als Akteur*in situative Ursachen heranzieht (Sonne, Baum, temporäre Unaufmerksamkeit). Untersuchungen belegten, dass ein Wechsel der Perspektive auch die Beurteilung der Situation ändert. (Beim nächsten „Verkehrshindernis“ also kurz vorstellen, man wäre selbst der Radfahrer oder die Fußgängerin gewesen :-) )
Der Wechsel vom Beobachterposten zur Ich-Perspektive beeinflusst nicht nur die Ursachenzuschreibung, sondern fördert auch die Empathie. Die Forscherin Hung und ihr Kollege Wyer zeigten dies in mehreren Experimenten mit Fundraisingbezug.1 Sie brachten die Probanden dazu, sich in die Situation von Betroffenen hineinzuversetzen, indem sie die Leser*innen im Text persönlich ansprachen („Stellen Sie sich vor, Sie oder eines Ihre Kinder wäre von Menschenhandel betroffen. Ihre Eltern wären in Sorge, weil sie nicht wissen, was mit Ihnen passiert ist.“). In manchen Bedingungen legten sie ein Foto von Betroffenen bei, was den Perspektivwechsel besonders förderte. Grundsätzlich zeigte sich, dass sich die Probanden im Vergleich zu Gruppen mit Beobachterperspektive („Viele Kinder sind von Menschenhandel betroffen. Die Eltern dieser Kinder sorgen sich, weil sie nicht wissen, was passiert ist.“) stärker in die Rolle der Betroffenen hineinversetzen konnten, einen größeren Drang verspürten zu helfen und bereit waren, mehr zu spenden.
So weit so einfach. Doch bevor Sie jetzt im Geiste schon Ihre Spendenmailings umtexten, werfen wir einen Blick auf das gesamte Experiment von Hung und Wyer. Ihr eigentliches Anliegen war nämlich zu zeigen, wie schlecht wir damit umgehen können, wenn wir in einen Rollenkonflikt geraten. So wurde eine Hälfte der Probanden zu Beginn des Textes in die Rolle als Helfer*in versetzt („Würden Sie hier helfen?“), die andere erst am Ende um Hilfe gebeten. Und tatsächlich hemmte die zu Beginn provozierte Helferrolle die Fähigkeit, die Akteur-Perspektive einzunehmen. Die Helferrolle korrespondierte besser mit der Beobachterperspektive.
In allen Experimenten wurde die Spendenbereitschaft abgefragt. In einem der Experimente konnten die Probanden am Ausgang darüber hinaus tatsächlich für die beschriebene NGO spenden – anonym und freiwillig. In der aktiven Handlung zeigte sich das klarste Bild: Die höchste Durchschnittsspende erzielte die Gruppe „Akteurperspektive („ich“) + Spendenaufruf am Ende“ (27 $). Die Probanden versetzten sich in die Rolle der Betroffenen und wurden am Ende um eine Spende gebeten.
Auf Platz zwei folgte die Gruppe „Spendenaufruf zu Beginn (Helferrolle) + Beobachterperspektive („sie“)“ (18 $). Die Probanden wurden von Anfang an in die Helferrolle versetzt und beobachteten dann die Szenerie von dieser Warte aus. Die geringste Durchschnittspende gab es von der Gruppe „Spendenaufruf zu Beginn (Helferrolle) + Akteurperspektive („ich“)“ (2 $). Hier war der Konflikt am stärksten. Die vierte Gruppe (Beobachterperspektive („sie“) + Spendenaufruf am Ende) brachte im Schnitt 10 $ ein.
Fazit Die Akteur- bzw. Ich-Perspektive fördert Empathie und Spendenbereitschaft – allerdings nur, wenn sich die Personen zunächst nicht als Helfer*innen wahrnehmen. Dies ist im Fundraisingalltag nicht immer realisierbar, z.B. wenn Personen einen Spendenbrief erhalten, der auf dem Umschlag bereits sein Ziel verkündet. Allein der Absender kann ausreichen, um die Rolle des/der Spender*in zu aktivieren. Stammspender*innen wissen, was ein Brief der NGO bedeutet. Auch große, bekannte NGOs schüren bereits durch ihren Namen eine Erwartungshaltung.
Der Perspektivwechsel hat also den größten Effekt, wenn das (Spenden-)Ziel möglichst lange unklar ist. Sonst fährt es sich mit der Beobachterperspektive besser.
1 Hung, Iris, W, Wyer, Robert S. (2009). Differences in Perspective and the Influence of Charitable Appeals When Imagining Oneself as the Victim Is Not Beneficial. Journal of Marketing Research, 46:3, 421-434.