Die Psychologie experimentiert viel und verkündet dann freudig „Die Menschen verhalten sich in Situation X eher wie A als wie B“. Viele solcher Erkenntnisse nutzen wir auch im Fundraising. Aber manchmal stellen wir fest: B hat doch besser funktioniert. Wie kann das sein? Wikimedia ist so ein Fall und diese Ausnahmen verrät uns einiges über die Regel.
Auf einer Fundraising-Veranstaltung lauschte ich mal sehr interessiert einem Vortrag von Till Mletzko, dem Fundraiser von Wikimedia Deutschland. Till liebt Zahlen und Statistik und weil die Wikipedia einen so enormen Traffic auf ihren Seiten hat, testet er die Spendenbanner der jährlichen Wikipedia-Spendenkampagnen in unzähligen A/B-Tests. Es ist wirklich spannend, wie das Fundraising-Team akribisch an kleinen Stellschrauben dreht, um das Spendenergebnis zu optimieren. Als gelernte Marktforscherin habe ich große Freude daran. Doch dann verwies Till darauf, dass Psychologinnen wie ich seit Jahren behaupten würden, der Social Proof wäre ein weit verbreitetes Phänomen. Durch die Tests hätten sie aber herausgefunden, dass sie mit dem Gegenteil mehr Spenden erzielen können. Man solle der Psychologie nicht blind vertrauen. Das konnte ich natürlich so nicht stehen lassen und habe nach dem Vortrag im Gespräch mit Till meine Psychologenehre aufs Schärfste verteidigt – durchaus siegreich wie ich finde (Grüße gehen raus! :) )
Tatsächlich ist Wikimedia ein spannender Fall. Denn dort funktioniert so manche Fundraisingpsychologie-Weisheit nicht so lehrbuchhaft wie oft – auch von mir – propagiert. Aber ist das der Beweis, dass die Psychologie unrecht hat? Nein! Es zeigt, dass die Psychologie sehr komplex ist und schon die Veränderung eines Parameters die Dinge auf den Kopf stellen kann. Schauen wir uns zunächst den von Till Mletzko zitierten Fall „Social Proof“ an.
Social Proof – kann die Masse irren?
„Social Proof“ bezeichnet das soziale Phänomen, dass sich Menschen gerne am Verhalten anderer orientieren und deren Verhalten nachahmen. Je mehr Leute etwas tun, desto stärker der Nachahmungswille. Frei nach dem Motto: Wenn das so viele andere machen, muss es gut sein. Wie man sich dieses (gut untersuchte!) Phänomen auch im Fundraising zunutze machen kann, habe ich schon mal ausführlicher >>hier beschrieben.
Nach dieser Lehre hieß es auf dem Wikipedia-Spendenbanner früher „... schon 200.000 Menschen haben bisher gespendet. Spenden auch Sie!“ Mittlerweile stehen auf den Bannern eher Sätze wie „Über 6 Millionen Menschen wird unser Banner täglich angezeigt, aber nur 312.245 Menschen haben bisher gespendet.“ oder „99% ignorieren diesen Banner. Seien Sie eine der seltenen Ausnahmen.“ [Fettungen durch mich]
Etwas, das ich spontan keiner Organisation empfehlen würde. Schreien uns diese Sätze doch entgegen: Die anderen spenden alle nicht, also musst du das auch nicht tun! Und wer will wirklich eine Ausnahmen sein? Wir sind letztlich sehr soziale Wesen und lieben das bequeme Schwimmen mit dem Strom.
Wikimedia konnte mit dem Wechsel in der Formulierung die Spendenresponse jedoch deutlich steigern. Wie ist das möglich?
Zunächst mal müssen wir schauen, was der Effekt eigentlich bewirken soll:
Stellen Sie sich vor, Sie sind in einer fremden Stadt und kennen kein Restaurant. Dann wählen Sie vermutlich eines aus, das bereits gut gefüllt ist oder zu dem die meisten und besten Bewertungen im Internet existieren. Sie vertrauen darauf, dass die anderen das Restaurant geprüft und für gut befunden haben. Wenn schon viele Menschen an eine Ihnen unbekannte NGO gespendet haben, dann vertrauen Sie dieser NGO eher als wenn diese kaum Spender vorzuweisen hat.
>> Wikipedia ist jedoch nicht unbekannt und benötigt diesen sozialen Nachweis von anderen nicht.
Neben dem Vertrauen hat der Social Proof noch einen anderen Effekt. Durch den Social Proof kann eine Sogwirkung entstehen, weil man einen „Trend nicht verpassen“ will. So viele machen mit? Ich auch!! Dafür reichen im Falle von Wikipedia 200.000 Menschen jedoch nicht aus, da die meisten Menschen davon ausgehen, dass „jeder“ in Deutschland die Wikipedia nutzt (was ja auch annähernd stimmt). Wenn dann nur 200.000 spenden, riecht das nicht nach Trend. >> Second fail.
Ok, der Social Proof nützt Wikimedia nichts. Aber warum bringt der explizite Verweis auf die verhältnismäßig geringe Anzahl an Spender:innen ein MEHR an Spenden?
Hier ist Wikimedia eine Ausnahme zum normalen Spendenbetrieb. In der Regel sind die Nutznießer:innen eines Projektes andere Personen als die Spender:innen selbst (man spendet z.B. für Kinder, kranke Personen oder auch Tiere etc.). Wikimedia spricht aber explizit die Nutzer:innen ihres Produkts, der Wikipedia, an. Man könnte nun denken, dass das besonders viel Spenden einbringt, denn die potenziellen Spender:innen profitieren ja selbst vom Projekt. Dem ist aber nicht so. Denn beim Spenden geht es nicht nur um den konkreten Nutzen, sondern auch um das dahinterliegende Konzept. Nur ein kleiner Anteil interessiert sich für die Idee und Vision, die hinter dem Projekt Wikipedia steht („Freies Wissen für alle“). Nur wenige kennen Wikimedia als Verein. Dieser eher kleine Personenkreis geht jedoch davon aus, dass noch viel mehr Menschen so denken wie sie selbst (dazu neigen wir alle). Werden sie also nun damit konfrontiert, dass tatsächlich nur ganz wenige die Idee von Wikimedia mit Geld unterstützen, sehen sie das Projekt in Gefahr und glauben, in die Bresche springen zu müssen. >> Für diese Wikipedia-Fans, die mehr sind als bloße Nutzer, ist die große Lücke zwischen Nutzern und Unterstützern die größere Motivation.
Emotion oder Information – die Gretchenfrage des Fundraising
Auch bei einem anderen Fall zeigt Wikimedia eine Fundraising-Ausnahme auf: Vor vielen Jahren testeten sie einen Storytelling-Spendenbanner gegen einen Fakten/Info-Banner. Der Info-Banner hat mehr Spenden erzielt.
Ja, ich sehe gerade vor meinem geistigen Auge triumphierende Fundraiser:innen vor dem Rechner sitzen, die sagen „ich habe es schon immer gewusst!“ Aber Nein: Auch dieses Ergebnis widerlegt nicht die (gut untersuchte!) These „Story/Einzelfall schlägt Information“. Das Wikimedia-Testergebnis bestätigt vielmehr hervorragend eine bekannte Studie von Small et. al (2007)1 zum sogenannten Einzelopfereffekt. Während die Forscher:innen einerseits klar belegten, dass ein Einzelfall mehr Spenden einbringt als statistische Fakten über die Anzahl aller Opfer, zeigten sie darüber hinaus, dass die Spenden trotz Einzelfall verringert wurden, wenn man die Probanden durch Lösen von Matheaufgaben zuvor in einen „rationalen Status“ gebracht hatte. Nachdenken verhindert Mitfühlen mit dem Einzelnen!
Wer auf Wikipedia unterwegs ist, ist zwangsläufig in einem Informationsmodus. Denn das macht die Plattform aus. Das ist eine Besonderheit, mit der Wikimedia umgehen muss. Denn ihnen bleibt das eigentlich stärkere Fundraisingtool der emotionalen Ansprache verwehrt. Es bedeutet NICHT, dass die emotionale Ansprache generell schlechter funktioniert.
In meinem Beratungsalltag begegnen mir immer mal wieder solche Ausnahmen. Aber es sind eben Ausnahmen! Till Mletzko hat recht, wenn er anhand seiner Erkenntnisse in seinen Vorträgen dazu aufruft, mehr zu testen und zu überprüfen. Aber nicht, weil die Psychologie grundsätzlich irrt, sondern weil die Welt komplex ist. Wer nicht testen kann oder will, der fährt am besten damit, den bekannten Regeln zu folgen, denn die Wahrscheinlichkeit ist höher, dass diese mehr Erfolg bringen. Und damit sind wir wieder bei der Statistik. Die schlägt das Gefühl – solange es nicht um Spendenaufrufe geht.
1 Small D., Loewenstein G. & Slovic P. (2007) Sympathy and callousness: The impact of deliberative thought on donations to identifiable and statistical victims. Organizational Behavior and Human Decision Processes 102